Freitag, 25. Februar 2011

Reise ins Innere ......................................................................................2

Die Kugel



Liebste,
in dem Dorf, aus dem ich stamme, kennen die Männer ihre Frauen nicht; meine Mutter versteckte sich im Kleiderschrank, während ich gezeugt wurde, weilte mein Vater an der Theke, schaute der Wirtin tief ins Dekolleté, sein Kumpan hörte ihm  zu, als er von seinen Heldentaten erzählte, wie er den Partisanen im Zimmer der Hure erschoss, der angeblichen,  zunächst ihn, dann sie. Vater hat es mir nie erzählt, aber ich weiß es. Ich war dabei.
Hörst du, wie es mich zerreißt, wie ich sie liebe, meine geliebte polnische Partisanin, die alles gab, die ihn verführte, um einen Nazi zu töten; du ahnst, es war ein unfairer Kampf, ich meine den der Deutschen gegen das polnische Volk, wäre ich sie, ich hätte genauso gehandelt, und doch, ohne ihn wäre ich nicht, ich habe seine Ohren geerbt, seine Fähigkeit zu hören, die ihm das Leben gerettet hat, als er das Geräusch wahrnahm, wie die Pistole im Kleiderschrank entsichert wurde.
In meinem Dorf kannten sich die Menschen nicht, egal, ob Mann oder Frau. Die Männer kannten die Männer nicht, die Frauen nicht die Frauen. Eines Tages schoss mein Vater in einer Mittagspause zur Übung, mal wieder, mit einem Kleinkalibergewehr; die Kugel flog, durchschlug den Zaunpfahl, flog weiter, die Grenze durchbrochen, über den grünen Rasen, den friedlichen, überquerte die nächste Grenze, ein Gebüsch, flog über blaurote Pflastersteine, durchschlug eine schwere Eichentür, ohne zu klingeln, flog über die Fliesen, die sauber geschrubbten, blieb in der nächsten Tür stecken, rechtzeitig, weil. Kein Weil, einfach so. Die Frau, der Mann, hinter der Küchentür, sie aßen; ob es Suppe war, oder Eintopf, hat mein Vater mir nie erzählt. Er hat überhaupt nicht gesprochen, weder über diese Kugel noch über die anderen. Ich habe es zufällig erfahren.
Kannst du dir vorstellen, dass er sich nicht einmal entschuldigt hat? Keiner hat je darüber gesprochen. Die gute Frau, die das Essen gekocht hatte, schwieg; der Mann, der nicht weiter aß, dachte nicht, dass die Russen kommen, wagte nicht, aufzustehen, es hätte noch ein Schuss kommen können. Er flüchtete nicht in die Arme seiner Frau, sie liebte ihn nicht. Da, wo er war, blieb er sitzen. Nach einer halben Stunde öffnete er ungläubig die Tür, in deren Futter das kleine Projektil steckengeblieben war.
Dieser Vorfall war allen Leuten im Dorf bekannt; keiner redete darüber. Schweigen breitete sich aus. Mein Vater fing an. Er schwieg am besten. Er erzählte keinem etwas über die Geschichte; so musste er sich nicht entschuldigen. Die Opfer schwiegen noch besser; es hätte ja angehen können, dass diese Kugel ernst gemeint war. Der Mann ging nicht zur Polizei, weil er noch Blindstellen hatte, eigene, aus der Zeit, als die Möbel von den Juden gekauft wurden, nicht direkt, auch nicht unter der Hand, alle wussten, woher sie kamen, selbst das Gold aus den Kehlen wurde nicht verabscheut. Schweigen lässt sich lernen, auch dann, wenn der Krieg vorbei ist. Erst recht, weil es galt, neu anzufangen. Bescheiden, man war keiner, der ganz oben war. Schweigen, ganz unten.
Es war das Gras, das mir die Geschichte erzählte. Ich habe versucht, das Gras wachsen zu hören, als es über diese eine Geschichte wuchs, lange nachdem es über die anderen braunen Geschichten gewachsen war. Ich mache mir Sorgen, ob du mich kennenlernen willst. Die Angst, so zu werden wie mein Vater, steckt so tief in mir, dass ich dir davon nichts erzähle. Ich habe nicht die Kraft, mir das anzuschauen, was in mir steckt. Die Menschen reden vom Erbe nach dem Tod, doch mein Erbe steckt in mir, seitdem meine Mutter sich im Kleiderschrank versteckt hat.
Eines Tages, kurz bevor es Zeit ist, dich zu heiraten, weil ich mit dir schlafen will, werde ich weglaufen. Ich habe Angst, wie mein Vater zu werden. Jetzt weißt du, warum ich trinke. Sollte ich dich je schlagen? Solltest du je Angst vor mir haben?
Eher gehe ich.
Verzeihe mir, bevor ich gehe. Ich liebe dich.
Postscript
Kannst du dir vorstellen, dass er sich je entschuldigt hat? Er ist niemals nach Polen gefahren, war kein zweites Mal in Sewastopol und besuchte keinen freundlichen Bauern aus der Ukraine. Das einzige, was er mir beibrachte, war ein französischer Satz. „Voulez vous coucher avec moi.“

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