„Wir können Small Talk machen,“ sagte Miriam, während sie vorsichtig Zimt auf die Schaumkrone streute, „oder wir sind direkt, reden ehrlich über uns und finden Wege zur Heilung. Eigentlich hast du keine Wahl, Janto. Vater. Ich darf doch Vater zu dir sagen?“
Miriam brachte es auf den Punkt, indem sie genau die Frage fokussierte, die Janto beschäftigte, als er vor achtunddreißig Jahren den Brief von Heike Connor geöffnet hatte. Er zog die Knie an seinen Oberkörper, legte seinen Kopf auf die samtweichen Kissen der Couch, schaute in die Morgensonne und stellte sich wie damals die Frage, ob er wirklich der Vater sein könne. In seinem Jugendzimmer, das die familiäre Enge widerspiegelte, wagte er nicht, über die Möglichkeit, er könne Vater werden, nachzudenken. Nach einem kurzem Gespräch mit seiner Mutter zerriss er das Schreiben von Heike und wartete die Entwicklung ab. Nichts geschah, kein weiterer Brief folgte und das geheime Bündnis mit der Mutter gegenüber dem Vater wurde keiner Belastungsprobe ausgesetzt.
„Es gab damals drei mögliche Väter,“ fing Janto vorsichtig an, „Ulf, der Chiefcamp, dann Meeno, dann ich. Ich nahm an, dass die beiden anderen Sex mit deiner Mutter gehabt hatten. Ich, der dritte im Bunde, wusste nicht, wie Sex funktioniert. Eines Nachts wurde ich mutig, weil ich wusste, dass Ulf und Meeno andere Mädchen gefunden hatten. Heike hat mich in ihr Bett gelassen. Kein Vorspiel, ein fordernder Kontakt meinerseits, ja, aber kein Eindringen, kein Orgasmus. Heike war so frustriert über meine Unbeholfenheit, dass sie bald eingeschlafen ist. Und das war es eigentlich.“
Beziehungen, das wusste Janto, lassen sich nur aufgrund von Ehrlichkeit gestalten. Egal, was jetzt passieren würde, er hatte die Wahrheit gesprochen. Er wollte Miriam nicht verletzen, indem er seine Vaterschaft anzweifelte, direkt, mit harten Worten, die zwar ehrlich, aber in höchster Instanz, sich selbst und Miriam gegenüber, unbeweisbar waren. Wenn Miriam überzeugt war, dass er ihr Vater sei, dann würde es einen Weg geben, um das zu verifizieren.
***
„Ich heiße Miriam, weil meine Mutter mir ein Geschenk mit meinem Namen machen wollte. Ich bin die Erhabene, obwohl ihr vier ständig besoffen ward, wenn ihr abends bei Ulf zusammen gekommen seid. Und dennoch bin ich frei von dem, was auf den Etagenbetten in dem engen Zimmer passiert ist, das war eure Sache. Ich bin als unschuldiges Kind geboren, das hat mir Mutter immer gesagt. Ich heiße Miriam, auch als Erinnerung an eine jungfräuliche Geburt. Das war Mutters Art zu scherzen, wenn sie über euch erzählte. Sie hatte allen einen Brief geschrieben, dass sie schwanger war, aber keiner von euch hat sich je freiwillig gemeldet.“
Janto schaute Miriam nicht in die Augen; nicht, weil er Angst vor ihren Gefühlen hatte, sondern, um bei sich bleiben zu können und so Miriam ebenfalls die Möglichkeit gab, bei sich zu bleiben, auch wenn sie sehr verletzt und aufgebracht war. Verständlicherweise. Solange er in seiner Mitte bleiben konnte, würde die Situation nicht eskalieren. Sicherheitshalber zog er einen Schutzkreis aus goldenem Licht um sich und versah die unsichtbare Zone mit einem Reiki-Meistersymbol.
Unvermittelt stand Miriam auf, ging in den Eingangsbereich, brachte ihre schlichte Umhängetasche mit und kramte zwei CD-ROM heraus. Sie bat Janto, sein Notebook zu starten, weil sie die Beweismaterialien mitgebracht hatte. Janto widersetzte sich nicht, obwohl er der Ansicht war, dass es sich nur um Indizien handeln könne, die ihm ein weiteres Kind brachten.
„Mutter hat von Ulf und Meeno Vaterschaftstest machen lassen; sie waren negativ. Sie sagte mir, dass du der einzige Mann gewesen bist, der in Frage kam. Nun zeige ich Bilder von euch und führe ein virtuelles Genetik-Experiment durch, und beweise, dass ich nur aus Mama und dir entstanden bin, auch wenn du offensichtlich keinen richtigen Spaß dabei hattest.“
„So kann nur eine Sannyasin über ihren Vater reden,“ dachte sich Janto, während er gespannt auf den Monitor seines Apple-Notebooks achtete. „Doch es ist gut, dass sie überhaupt redet und nicht die Bude auseinandernimmt oder einen Revolver aus ihrer Tasche zieht.“ Es dauerte nicht lange, da war das experimentelle Genetikprogramm installiert und Miriam hatte in Photoshop alle Bilder – die von Heike, die von Janto, aber auch die von Ulf und Meeno organisiert. Zunächst zeigte sie ein paar Bilder von den Vorbereitungen für das Camp.
„Das war Ostern 1971. Schon damals zeigte sich, dass ihr drei eine verschworene Gemeinschaft ward, Heike gehörte am Anfang nicht mit dazu. Ihr habt
Reinhard Mey mit einem alten Dualplattenspieler gehört,
Hava Nagila in der Turnhalle getanzt, Ulf liebte das Banjo-Spielen und die Theatralik, abends wurde bei
A Whiter Shade Of Pale geschmust-getanzt, und da sind sich Ulf und Heike zum ersten Mal näher gekommen, auch wenn er fast zwei Köpfe größer war als Mutter. Schließlich noch ein paar Bilder von einem Osterspaziergang, auf dem Heike noch nicht eure Eier gesucht hat.“
Janto lachte; und sein Lachen hatte etwas Befreiendes. Miriam, die sehr ernst referierte, hielt inne und dann lachte sie mit, weil sie sich ermuntert fühlte, ebenfalls zu lachen. „Ich weiß jetzt, was wir zusammen machen sollten, um uns kennenzulernen,“ sagte sie, wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute Janto prüfend an, „wir machen die Mystik Rose zusammen. Drei Wochen lang. Eine Woche jeden Tag eine Stunde Lachen, dann eine Woche Weinen und schließlich eine Woche Stille. Genau, das machen wir.“
„In der Gruppe?“ fragte Janto.
„Nein, hier bei dir, nur wir beide. Schließlich will ich dich ganz allein als meinen Vater haben.“
Janto nickte und malte sich aus, was in den nächsten drei Wochen passieren würde. Irgendwie, mit gutem Willen seinerseits und mit Goodwill von Miriam würde sich alles in sein Leben integrieren lassen, ohne dass es zu viel Trouble geben würde. Seine jüngsten Kinder, acht und neun Jahre jung, würden sich wundern, dass sie plötzlich eine Schwester bekämen, die kein Schwesterchen sein würde, sondern eine erwachsene Frau, die ihre Mutter sein könnte. Fände er die richtigen Worte, gebe es keine Probleme, abgesehen von kleinen emotionalen Aufregungen und Verwirrspielchen.
Während er gedanklich woanders war, hatte Miriam die Vorbereitungen für das Experiment getroffen, zeigte vor allem Heike. „Das war Mutter in Bad Harzburg, das Bild dürfte Meeno gemacht haben. Janto nickte. „Und das bist du, ebenfalls von Meeno konterfeit. Auf diesem Bild seid ihr beide zusammen, schön weit voneinander entfernt, als ob ihr niemals etwas miteinander gemacht habt oder es tun könntet. So. Und jetzt bringe ich zwei Portraits ins Programm und du sagst, was ich von dir geerbt haben könnte und welche Eigenschaften ich von Mama habe.“
Eine Stunde später gab sich Janto geschlagen. Nur er konnte der Vater gewesen sein, es gab keine andere Möglichkeit. Mehrere Experimente mit Ulf und Meeno folgten, doch diese Genetikkonstellationen ergaben keine Miriam.
„Und warum hat Heike mich nicht informiert?“
„Sie hat dir geschrieben.“
„Ich war noch siebzehn und hatte gewaltig Angst vor meinem Vater,“ sagte Janto, „ich antwortete nicht, weil ich es mir nicht vorstellen konnte, dass aus Nichts, naja, aus fast Nichts ein Kind werden konnte. Und warum hat sie es nicht noch einmal versucht?“
„Vielleicht hat sie dich gern gehabt, auf alle Fälle mochte sie dich. Du hast sie zwar auch benutzt, aber gegen einen Vater sollte eine Mutter nicht kämpfen, das war ihre Ansicht. Es hätte mir geschadet; jedenfalls mehr als dir. Und meine Großeltern waren so reich, dass sie dein Geld nicht brauchten.“
***
„Kann ich einen Moment alleine sein?“ fragte er Miriam. Dann ging er in den Meditationsraum, einem zweiten Loft, der über seiner Wohnung lag und gemeinsam von Janto, seiner Familie, seinen Freunden und Hausnachbarn genutzt wurde. Bevor er meditierte, duschte er, um richtig wach zu werden, zog eine weiße Robe an, räucherte wie ein Medizinmann der Lakota, um den Großen Geist zu locken und den Raum zu reinigen, und zündete drei Kerzen an. Er verband sich die Augen, rief das Große Geheimnis, während er sieben Mal tief durchatmete, rief die vier Wesenheiten und bat seine Totemtiere, bei ihm zu sein. Nach einer Viertelstunde Stille nahm er das Leben so an, wie es sich ihm zeigte.