Montag, 31. Januar 2011

Danae, Miriam und Janto ........................................................................3

Danae ist neugierig



„Und nun tu, was du willst,“ sagte Miriam, „du hast mir gezeigt, dass du zu mir stehst, das reicht mir. Nun lauf oder telephoniere, tu das, was dir gut tut.“
In diesem Moment machten sich die Principles wieder bemerkbar. Janto schnappte sich sein Xperia und stürmte die Treppen hinunter, um Danae zu sagen, was passiert war. Nach einer Stunde kamen die beiden zurück, kicherten und gackerten, als ob nichts geschehen wäre. Die beiden Frauen schauten sich intensiv an, prüften sich von Kopf zu Fuß, bis Danae sagte: „Ich glaube es dir erst, wenn du mir die Ergebnisse in der Genetiksoftware zeigst.“ Miriam machte eine Verbeugung vor der jungen Frau, auch wenn sie die ältere war. „Namasté, Danae, ich grüße die Göttin in dir. Dein Lover hat wirklich einen guten Geschmack, das muss ich euch beiden lassen. Warum willst du einen Beweis, warum glaubst du deinem Vater nicht?“
Janto wusste nicht, ob sich Miriam absichtlich oder unbewusst versprochen hatte. Aber er konnte und wollte sich nicht einmischen, jedenfalls nicht mit Worten. Wieder bat er die Reikiquelle um gute Energie und um die richtigen Worte, um das Verhalten, das aufrichtig ist und um eine Lösung zum Wohlergehen von allen.
„Ich habe keinen Vaterkomplex,“ sagte Danae, leise aber deutlich. „Janto ist mein Guru, mein Freund und mein Lover. Hast du was dagegen? Ich habe das Recht zu erfahren, was hier passiert. Und außerdem bin ich neugierig. Ich habe ihn immer nur stark erlebt, heute hat er zum ersten Mal gezeigt, wie wichtig ich ihm bin. Er würde mich sogar heiraten.“
Danae lehnte sich an Janto, überlegte und dann stellte sie sich hinter ihn, als ob sie sich verstecken wolle. Doch sie demonstrierte etwas anderes.
„Du brauchst ihm nicht den Rücken zu stärken,“ sagte Miriam, „er ist so tief mit dem Leben verwurzelt, dass er das alleine aushalten kann. Komm her, ich freß dich nicht auf und zeige euch ein paar Bilder von meiner Mutter und von Janto, als er von Sex noch keine Ahnung hatte.“
„Zuerst entschuldigst du dich.“
„Warum? Ich habe mich versprochen, eigentlich wollte ich es nicht so sagen, aber ich komme mit den Altersunterschieden nicht ganz zurecht. Außerdem bin ich eifersüchtig.“
„Du siehst auch nicht gerade viel älter aus als ich,“ lenkte Danae ein, ohne die Unwahrheit zu sprechen.

Danae, Miriam und Janto ...................................................................................2

Miriam will eine Geschichte hören



Ein Blick auf seine Armbanduhr, die er neben seine Jeans abgelegt hatte, verriet Janto, dass sein Zeitgefüge durcheinander gekommen war. Statt der gefühlten dreißig Minuten hatte er anderthalb Stunden benötigt, um zu meditieren und hinterher hatte er sich noch Karten gelegt und war dabei er wohl eingeschlafen. Diesmal lief er die Treppen schnell hinunter, doch er brauchte nicht lange, bis er sich vergewissert hatte, dass Miriam nicht mehr in seiner Wohnung war. Sie hatte alles mitgenommen, die CD-ROM, ihre Handtasche und ihre Ausstrahlung. Nur ihr lieblicher Duft, den er mochte, war ihm geblieben.
Kurz darauf signalisierte sein Sony Ericsson den Empfang einer neuen SMS. „Hallo Janto. Setz dich bitte an dein Notebook und schreibe mir eine Geschichte. Ich nenne dir in zeitlicher Abfolge Stichworte, die unbedingt vorkommen sollen. Als Erstes: Sich verlassen fühlen. Das nächste bekommst du irgendwann, wenn du mitten drin bist. Ab jetzt bin ICH deine Tochter und ich wünsche mir wie ein kleines Kind, dass du mir eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest, damit ich in deiner Nähe mit dem Gefühl, geliebt zu werden, ruhig und sicher einschlafen kann.“
***
Janto fluchte, weil Danae, seine neue Freundin, in einer halben Stunde kommen würde. Sie hatten sich zu einem lustvollen tantrischen Date verabredet. Er brauchte nur flüchtig dran zu denken, und sein Körper war elektrisiert. Danaes Stimme war so erotisch, dass er, nur wenn er an den Klang ihrer Stimme dachte, seine Lust kaum noch kontrollieren konnte. Das war ein Geschenk, wenn er erschöpft war, eine Qual, wenn er Leerlauf hatte und sie nicht in seiner Nähe war. Danae hatte immer Lust, morgens, mittags und abends. Danae hatte überall Lust, im Wagen, an der Tankstelle, im Wald und im Café. Noch nie hatte er eine Liaison mit einer Frau, die soviel Lust an der Lust hatte, die sich verkleidete, die Lust auf erotische Rollenspiele hatte, die mit ihm stundenlang tantrische Massagen übte, mit immer neuen Varianten, die mit ihm auf einem hohem Kamm der Lust ritt; eine junge Frau, die schon den Kobraatem mit all seinen Spielregeln kannte, um das Energielevel zu senken, um dann wieder von neuem in sexueller Lust zu schwimmen, um irgendwann morgens pünktlich zum Frühstück orgiastisch aufzuschreien. Wie sie es danach schaffte, ohne Schlaf zum Unterricht zu kommen, blieb ihm ein Rätsel. Als er neunzehn war, hätte er mindestens drei Stunden Schlaf benötigt und langes Duschen, um wieder wach zu werden.

Zwei Möglichkeiten fielen ihm ein. Am besten, er würde Miriam schreiben, dass es nicht ginge, weil er ein Date habe. Oder sollte er vielleicht lügen, dass sein Notebook nicht mehr funktioniert? Aber Lügen ist keine Lösung, dachte er, Lügen macht alles kompliziert und verhindert Entwicklung. Meine und auch die von Miriam. Obwohl ich sie nicht kenne. Vielleicht sollte ich mich entscheiden, dass es nur ein Fake ist.

Janto schüttelte seinen Kopf. Dann lieber die zweite Variante. Danae macht das Abendessen, während ich schreibe. Ich erkläre ihr alles, schreibe in Ruhe, ohne zu wissen, ob ich ruhig sein kann, mit Danaes Händen, die von meinen Knie die Oberschenkel hochwandern, oder die sich über mich beugt, meinen Hinterkopf mit ihren Brüsten berührt, an meinen Ohren knabbert und mit ihren Fingern sanft meine Lippen verführt. So oft kann ich gar nicht tief durchatmen, um zur Besinnung zu kommen, weil sie dann geküsst werden will und ich Ja sage, weil ich es liebe, ihre Lippen mit meinen Lippen zu berühren, weil ich das Spiel der Verführung liebe, das jedes Mal aufs Neue stattfindet und zu dem ich noch niemals Nein sagen konnte.

Das Xperia summte. Ausrechnet Enigmas Principles Of Lust war sein Klingelton, der ihn auf jede Nachricht positiv reagieren ließ. Fluchen half nicht. Ein Blick verriet ihm, dass das Spiel begonnen hatte. „Papa,“ schrieb Miriam, „Papa, wie weit bist du? Es ist so langweilig ohne dich. Fängst du jetzt bitte an? Immer hattest du etwas anderes zu tun, niemals hast du an mich gedacht. Jetzt bin ICH an der Reihe.“

In zwanzig Minuten würde Danae an der Tür stehen. Er könnte sie versetzen, aber mit wem würde sie dann ihre Triebe ausleben? Nicht auszudenken. Als doch die Henry-Miller-Variante; ich schreibe und sie zieht sich schon mal aus. Am besten drehe ich die Heizung auf, bevor es ihr zu kalt wird. Aber wie sollte er eine Geschichte erzählen, wenn er nicht bei der Sache war? Er war ein Geschichtenerzähler, der gut erzählte, weil er sich in die Gefühle anderer hineinversetzen konnte und weil er ganz bei der Sache war. Janto hatte sich noch nie bei Gute-Nacht-Geschichten ablenken lassen, wenn seine Kinder bei ihm waren.

Plötzlich fiel ihm die Affengeschichte ein. Ein Äffchen kann man mithilfe eines Glases fangen, drinnen ist eine dicke Nuss, die der Affe haben will. Weil er so dumm ist, nicht loszulassen, bekommt er sein Händchen nicht mehr aus dem Glas und wird so gefangen. „Ich sollte Danae loslassen,“ dachte sich Janto, „aber heute Nacht ist meine Nacht. Sieben tantrische Nächte sollen es sein, und heute Nacht wird die fünfte Nacht, und dabei bleibt es.“

So schickte er Miriam eine SMS. „Es geht nicht. In einer Viertelstunde bekomme ich Besuch. Kinder müssen auch mal warten können. Bis später. Janto.“

Drei Minuten später wurde Janto durch die Principles erinnert, dass er eine Tochter hatte. „Ich will die Geschichte jetzt! Ich bin DEINE Tochter, und ich habe etwas gut bei dir. Und das ganz oft! Miriam.“

Also setzte er sich in den Schneidersitz, um sieben Mal tief durchzuatmen. Nachdem dritten Atemzug hörte er den Schlüssel in der Wohnungstür. Danae, dachte er. Und er atmete weiter, während seine Augen geschlossen waren. Beim sechsten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Danaes Parfum war es auch nicht. Doch er hielt die Augen verschlossen, um ein siebtes Mal zu atmen. Er hätte wohl noch dreißig Mal mehr atmen müssen, um zu einer Lösung zu kommen, aber dafür reichte die Zeit nicht. Janto öffnete die Augen.
„Hallo Papa,“ sagte Miriam, „wenn du nicht schreiben kannst, so solltest du mir die Geschichte erzählen.“ Dann legte sie sich auf die Couch, und zwar so, dass ihr Kopf auf seinen Oberschenkeln lag, während ihr dunkelbraunes gewelltes Haar den Boden berührte. „Du kannst jetzt anfangen, ich höre dir gerne zu.“ Miriam schloss die Augen, als Janto begann.
 ***
„Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da saß ein Märchenerzähler in Norwegen mit seiner Familie am Lagerfeuer. Es war eine kalte Oktobernacht, alle saßen eng beieinander, ganz ohne Musik, weil es viel angenehmer war, die Hände in den Taschen zu behalten, als Flöte zu spielen. Der Mann erzählte ein traurige Fabel, weil ein Elchbaby seine Eltern verloren hatte. Es irrte lange in einer dunklen Nacht umher, bis es zu müde war, um noch einen Schritt weiterzugehen. Am Rande eines großen Fjords ließ sich das Elchkind nieder, ohne zu wissen, wie nahe es sich an der Gefahr befand.“

In diesem Moment hörte Janto, wie sich ein weiterer Schlüssel im Schloss bewegte. Die Tür öffnete sich, Danae sagte: „Hallo, mein Schatz“ und wollte noch etwas hinzufügen, als sie Janto und Miriam sah. „Scheiße,“ rief sie aus, und unerwartet fügte sie hinzu: „Sorry.“ Danae warf den Schlüssel in Richtung Janto, verfehlte ihn, drehte sich um und knallte die Tür zu.

„Du kannst jetzt weiter erzählen,“ sagte Miriam. Nur setzte sie sich jetzt anders hin, weil sie Janto nicht all zu sehr kompromittieren wollte. Seine sexuelle Regung, als Danae im Raum stand, bevor sie sich verabschiedete, hatte sie genau wahrgenommen. „Tut mir Leid, dass deine Verabredung keine Manieren hat und so ungeduldig ist, Janto, aber findest du nicht auch, dass ein kleines Mädchen wissen möchte, wie es mit dem Elchbaby weiter geht?“

Danae, Miriam und Janto

Die Liebe des Vaters



„Mein Name ist Miriam Connor. Ich bin deine Tochter und du bist mein Vater. Ich möchte dich kennenlernen.“
Janto Hayen war nur etwas verblüfft, als er die Mitteilung, die seine Welt für immer veränderte, an einem sonnigen Morgen durch die Muschel seines SonyXperias in seiner Bremer Loftwohnung hörte. Im Grunde genommen wusste er schon immer, dass er mit siebzehn Jahren Vater geworden war. Den Brief, in dem Miriams Mutter ihm die Nachricht mitgeteilt hatte, hielt er für einen schlechten Scherz, weil die beiden keinen richtigen Sex gehabt hatten und außerdem waren zwei weitere Freunde mit am Spiel beteiligt, zeitlich versetzt, aber immerhin. Nun war es an der Zeit, sich der Realität zu stellen.
„Herzlich willkommen,“ antwortete Janto, lachte verlegen und baute so spontan eine Brücke zu seiner Tochter, deren Stimme zwar ruhig klang, jedoch ihre Aufregung, Verletzlichkeit, Wut und Enttäuschung mehr verbarg als andeutete. „Ich habe immer mit dieser Situation gerechnet, obwohl ich es niemals genau wissen konnte. Wann ist es dir Recht, Miriam? Von mir aus klappt es, wann immer du willst.“
„Jetzt,“ sagte Miriam, „du brauchst bloß herunterzukommen und die Tür öffnen.“
***
Langsam ging Janto die Treppen von dritten Stock herunter, um Zeit zu gewinnen. Heike Connor. Stufe für Stufe ging er in die Zeit zurück; jede Stufe bildete ein Jahr, bis er in dem Jahr 1971 angelangt war. Nach den Sommerferien wiederholte er die elfte Klasse, verliebte sich in seine erste Freundin, die von seinen Erinnerungen an den Juli 1971 niemals etwas erfuhr. Stufe für Stufe kamen die Bilder der Menschen zurück, mit denen Janto drei Wochen im Harz verbrachte hatte.
Janto sah seinen Freund Ulf, Chef des Feriencamps, der wohl als erster Sex mit Heike hatte. Dann kam Meeno, der als zweiter seine sexuellen Interessen zum Ausdruck brachte, bevor er mit einem anderen Mädchen anbändelte.
„Sie hatte ein wunderbares Lächeln; weiche, runde Brüste, die für ihr Alter schön groß geraten waren“, dachte Janto. „1971. Wir haben uns keine Gedanken über das Alter unserer Freundinnen gemacht. Es drehte sich um Lust und um die Weise, ein Mädel rumzukriegen. Alles andere war uninteressant – bis auf die Musik, den Lambrusco, den Bohnenzopp und die leckeren Whiskeycolas.“
Die Dias, auch die wunderschönen Aufnahmen mit Heike, hatte Janto vor kurzem weggegeben, um emotionalen Platz für Neues zu schaffen; doch jedes einzelne Gesicht, jede Situation, das Wandern, das Singen am Lagerfeuer, die Klippen von Bad Harzburg, der Alte Mann, der wegschaute, als Meeno die junge Tomma verführte, die Zwillingsschwestern am Bach, noch viel zu jung für Meenos Triebe.
Und Heike. In der Stadt an der Ampel, als Meeno der Polizei Rede und Antwort stehen musste, als sie ihn erwischt hatten, genau in dem Moment, als er zum Spaß auf Stopp drückte und die Reaktionen der Autofahrer studierte, Heike mit ihrer roten Jeans und dem weißen Pullover, der so gestrickt war, dass der Einblick auf ihre Brüste und Knospen möglich war, traute man sich, genau hinzuschauen, Heike beim Singen und Malen mit den Kindern, Heike abends auf der Matratze – eine Aufnahme, die witzigerweise Heike und ein Etikett mit der Bezeichnung „Weltmeister“ zum Inhalt machten, Heike auf dem Weg ins Winuwuk, dem romantischen Bauwerk des Künstlers Bernhard Hoetger. Heike mit ihren kurzen Haaren, einem strengen Blick und dünnen Lippen; ein Bild, das Janto dennoch ihre Lust an der Lust erzählte, es waren die Wangen, die die Erregung mitteilten, nicht jedem, mehr dem Eingeweihten, der Kenner und Wollender ist. Die Bilder waren Spiegel für seine Lust, die damals mit Schuldgefühlen verbunden war.
Stufe für Stufe, genau wie damals, als er nach Mitternacht leise die Treppen zu Heikes Raum hinunterschlich, ohne das Treppenlicht einzuschalten, aus der Angst, entdeckt zu werden, mit pochendem Herzen, um sie zu fragen, ob sie mit ihm schlafen würde. Stufe für Stufe klopfte sein Herz schneller. Damals wusste er nicht, wie sich ein Mann an eine Frau koppelt, physisch gesehen. Die Technik, wie es ging, hatte ihm keiner erzählt. Und auch nicht das, wodrin sich Liebe und Triebe unterscheiden, wie man es lernt, in Liebe zu sein und all seine Gefühle und Regungen akzeptiert, ohne sich zu verleumden.
Heute wusste Janto nicht, was er tun solle, um seine Tochter zu begrüßen. 1971 war er betrunken, heute war er nüchtern, damals jung, unsicher, verklemmt, geil und unerfahren, heute fühlte er sich einfach wohl in seiner Haut. Und dennoch stieg die Aufregung, kurz bevor er die Tür öffnete.
***
„Zeig dich so wie du bist,“ sagte seine innere Stimme, „zeige ihr deine Liebe, deine Ehrlichkeit und deine Bereitschaft, sie als deine Tochter anzunehmen. Das ist es, worauf es ankommt.“
Janto atmete noch einmal tief durch und spürte unendliche Freude, als er seine Tochter umarmte. In diesem Moment war für ihn spürbar, deutlich spürbar, dass beide, Vater und Tochter, Liebende waren.
„Ich habe dir Blumen mitgebracht,“ sagte Miriam, „ich hoffe, du liebst Rosen.“
Seine Tochter hatte genau die richtigen Farben herausgesucht, rote Rosen, orangene, gelbe und dunkelrote; und sie hatte um seine Lieblingsblume gewusst. Janto nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit Miriam mit Blumen zu überraschen, blickte ihr liebevoll in die Augen, denn er hatte es gelernt, sich mit dem Herzen zu bedanken.
„Ich freue mich über die Blumen,“ sagte er, machte eine Pause, um die passenden Worte zu finden, „und noch mehr freue ich mich über dich. Schön, dass du da bist.“
***
In der Zeit, als er zwei Latté Macchiato vorbereitete, schaute sie sich um, öffnete ein Fenster, blickte auf die Weser, auf den alten Hafen, entdeckte in der Nähe der extravaganten Stereoanlage ein großes Trampolin und hüpfte, bis sie keine Lust mehr hatte.
„Was macht ein Mann in deinem Alter mit einem Trampolin?“
„Na was wohl? Hüpfen, natürlich. Ich mache manchmal morgens die Dynamische, da ist ein Trampolin  genau das Richtige für meine Wirbelsäule. Ansonsten lieben es die Kinder, du hast noch drei Geschwister, und meine Freundin und ich lieben es, zusammen darauf zu springen.“
„Bist du etwa ein Sannyasin?“ fragte Miriam.
Janto schüttelte den Kopf. „Nein, das war ich einmal. Ich bin jetzt mein eigener Guru. Aber es war schön, ein Sannyasin zu sein.“
„Ich bin immer noch eine Sannyasin,“ antwortete Miriam und holte ihre Mala hervor, die unter Schichten von Pullovern und Schals versteckt war.
„Wie aufregend,“ lachte Janto, „dann haben wir wenigstens noch etwas, worüber wir uns unterhalten können.“

Eine weitere jungfräuliche Geburt



„Wir können Small Talk machen,“ sagte Miriam, während sie vorsichtig Zimt auf die Schaumkrone streute, „oder wir sind direkt, reden ehrlich über uns und finden Wege zur Heilung. Eigentlich hast du keine Wahl, Janto. Vater. Ich darf doch Vater zu dir sagen?“
Miriam brachte es auf den Punkt, indem sie genau die Frage fokussierte, die Janto beschäftigte, als er vor achtunddreißig Jahren den Brief von Heike Connor geöffnet hatte. Er zog die Knie an seinen Oberkörper, legte seinen Kopf auf die samtweichen Kissen der Couch, schaute in die Morgensonne und stellte sich wie damals die Frage, ob er wirklich der Vater sein könne. In seinem Jugendzimmer, das die familiäre Enge widerspiegelte, wagte er nicht, über die Möglichkeit, er könne Vater werden, nachzudenken. Nach einem kurzem Gespräch mit seiner Mutter zerriss er das Schreiben von Heike und wartete die Entwicklung ab. Nichts geschah, kein weiterer Brief folgte und das geheime Bündnis mit der Mutter gegenüber dem Vater wurde keiner Belastungsprobe ausgesetzt.
„Es gab damals drei mögliche Väter,“ fing Janto vorsichtig an, „Ulf, der Chiefcamp, dann Meeno, dann ich. Ich nahm an, dass die beiden anderen Sex mit deiner Mutter gehabt hatten. Ich, der dritte im Bunde, wusste nicht, wie Sex funktioniert. Eines Nachts wurde ich mutig, weil ich wusste, dass Ulf und Meeno andere Mädchen gefunden hatten. Heike hat mich in ihr Bett gelassen. Kein Vorspiel, ein fordernder Kontakt meinerseits, ja, aber kein Eindringen, kein Orgasmus. Heike war so frustriert über meine Unbeholfenheit, dass sie bald eingeschlafen ist. Und das war es eigentlich.“
Beziehungen, das wusste Janto, lassen sich nur aufgrund von Ehrlichkeit gestalten. Egal, was jetzt passieren würde, er hatte die Wahrheit gesprochen. Er wollte Miriam nicht verletzen, indem er seine Vaterschaft anzweifelte, direkt, mit harten Worten, die zwar ehrlich, aber in höchster Instanz, sich selbst und Miriam gegenüber, unbeweisbar waren. Wenn Miriam überzeugt war, dass er ihr Vater sei, dann würde es einen Weg geben, um das zu verifizieren.
***
„Ich heiße Miriam, weil meine Mutter mir ein Geschenk mit meinem Namen machen wollte. Ich bin die Erhabene, obwohl ihr vier ständig besoffen ward, wenn ihr abends bei Ulf zusammen gekommen seid. Und dennoch bin ich frei von dem, was auf den Etagenbetten in dem engen Zimmer passiert ist, das war eure Sache. Ich bin als unschuldiges Kind geboren, das hat mir Mutter immer gesagt. Ich heiße Miriam, auch als Erinnerung an eine jungfräuliche Geburt. Das war Mutters Art zu scherzen, wenn sie über euch erzählte. Sie hatte allen einen Brief geschrieben, dass sie schwanger war, aber keiner von euch hat sich je freiwillig gemeldet.“
Janto schaute Miriam nicht in die Augen; nicht, weil er Angst vor ihren Gefühlen hatte, sondern, um bei sich bleiben zu können und so Miriam ebenfalls die Möglichkeit gab, bei sich zu bleiben, auch wenn sie sehr verletzt und aufgebracht war. Verständlicherweise. Solange er in seiner Mitte bleiben konnte, würde die Situation nicht eskalieren. Sicherheitshalber zog er einen Schutzkreis aus goldenem Licht um sich und versah die unsichtbare Zone mit einem Reiki-Meistersymbol.
Unvermittelt stand Miriam auf, ging in den Eingangsbereich, brachte ihre schlichte Umhängetasche mit und kramte zwei CD-ROM heraus. Sie bat Janto, sein Notebook zu starten, weil sie die Beweismaterialien mitgebracht hatte. Janto widersetzte sich nicht, obwohl er der Ansicht war, dass es sich nur um Indizien handeln könne, die ihm ein weiteres Kind brachten.
„Mutter hat von Ulf und Meeno Vaterschaftstest machen lassen; sie waren negativ. Sie sagte mir, dass du der einzige Mann gewesen bist, der in Frage kam. Nun zeige ich Bilder von euch und führe ein virtuelles Genetik-Experiment durch, und beweise, dass ich nur aus Mama und dir entstanden bin, auch wenn du offensichtlich keinen richtigen Spaß dabei hattest.“
„So kann nur eine Sannyasin über ihren Vater reden,“ dachte sich Janto, während er gespannt auf den Monitor seines Apple-Notebooks achtete. „Doch es ist gut, dass sie überhaupt redet und nicht die Bude auseinandernimmt oder einen Revolver aus ihrer Tasche zieht.“ Es dauerte nicht lange, da war das experimentelle Genetikprogramm installiert und Miriam hatte in Photoshop alle Bilder – die von Heike, die von Janto, aber auch die von Ulf und Meeno organisiert. Zunächst zeigte sie ein paar Bilder von den Vorbereitungen für das Camp.
„Das war Ostern 1971. Schon damals zeigte sich, dass ihr drei eine verschworene Gemeinschaft ward, Heike gehörte am Anfang nicht mit dazu. Ihr habt Reinhard Mey mit einem alten Dualplattenspieler gehört, Hava Nagila in der Turnhalle getanzt, Ulf liebte das Banjo-Spielen und die Theatralik, abends wurde bei A Whiter Shade Of Pale geschmust-getanzt, und da sind sich Ulf und Heike zum ersten Mal näher gekommen, auch wenn er fast zwei Köpfe größer war als Mutter. Schließlich noch ein paar Bilder von einem Osterspaziergang, auf dem Heike noch nicht eure Eier gesucht hat.“
Janto lachte; und sein Lachen hatte etwas Befreiendes. Miriam, die sehr ernst referierte, hielt inne und dann lachte sie mit, weil sie sich ermuntert fühlte, ebenfalls zu lachen. „Ich weiß jetzt, was wir zusammen machen sollten, um uns kennenzulernen,“ sagte sie, wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute Janto prüfend an, „wir machen die Mystik Rose zusammen. Drei Wochen lang. Eine Woche jeden Tag eine Stunde Lachen, dann eine Woche Weinen und schließlich eine Woche Stille. Genau, das machen wir.“
„In der Gruppe?“ fragte Janto.
„Nein, hier bei dir, nur wir beide. Schließlich will ich dich ganz allein als meinen Vater haben.“
Janto nickte und malte sich aus, was in den nächsten drei Wochen passieren würde. Irgendwie, mit gutem Willen seinerseits und mit Goodwill von Miriam würde sich alles in sein Leben integrieren lassen, ohne dass es zu viel Trouble geben würde. Seine jüngsten Kinder, acht und neun Jahre jung, würden sich wundern, dass sie plötzlich eine Schwester bekämen, die kein Schwesterchen sein würde, sondern eine erwachsene Frau, die ihre Mutter sein könnte. Fände er die richtigen Worte, gebe es keine Probleme, abgesehen von kleinen emotionalen Aufregungen und Verwirrspielchen.
Während er gedanklich woanders war, hatte Miriam die Vorbereitungen für das Experiment getroffen, zeigte vor allem Heike. „Das war Mutter in Bad Harzburg, das Bild dürfte Meeno gemacht haben. Janto nickte. „Und das bist du, ebenfalls von Meeno konterfeit. Auf diesem Bild seid ihr beide zusammen, schön weit voneinander entfernt, als ob ihr niemals etwas miteinander gemacht habt oder es tun könntet. So. Und jetzt bringe ich zwei Portraits ins Programm und du sagst, was ich von dir geerbt haben könnte und welche Eigenschaften ich von Mama habe.“
Eine Stunde später gab sich Janto geschlagen. Nur er konnte der Vater gewesen sein, es gab keine andere Möglichkeit. Mehrere Experimente mit Ulf und Meeno folgten, doch diese Genetikkonstellationen ergaben keine Miriam.
„Und warum hat Heike mich nicht informiert?“
„Sie hat dir geschrieben.“
„Ich war noch siebzehn und hatte gewaltig Angst vor meinem Vater,“ sagte Janto, „ich antwortete nicht, weil ich es mir nicht vorstellen konnte, dass aus Nichts, naja, aus fast Nichts ein Kind werden konnte. Und warum hat sie es nicht noch einmal versucht?“
„Vielleicht hat sie dich gern gehabt, auf alle Fälle mochte sie dich. Du hast sie zwar auch benutzt, aber gegen einen Vater sollte eine Mutter nicht kämpfen, das war ihre Ansicht. Es hätte mir geschadet; jedenfalls mehr als dir. Und meine Großeltern waren so reich, dass sie dein Geld nicht brauchten.“
***
„Kann ich einen Moment alleine sein?“ fragte er Miriam. Dann ging er in den Meditationsraum, einem zweiten Loft, der über seiner Wohnung lag und gemeinsam von Janto, seiner Familie, seinen Freunden und Hausnachbarn genutzt wurde. Bevor er meditierte, duschte er, um richtig wach zu werden, zog eine weiße Robe an, räucherte wie ein Medizinmann der Lakota, um den Großen Geist zu locken und den Raum zu reinigen, und zündete drei Kerzen an. Er verband sich die Augen, rief das Große Geheimnis, während er sieben Mal tief durchatmete, rief die vier Wesenheiten und bat seine Totemtiere, bei ihm zu sein. Nach einer Viertelstunde Stille nahm er das Leben so an, wie es sich ihm zeigte.

Novellen von Radha

RADHA
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