Montag, 21. Februar 2011

Reise ins Innere ......................................................................................1

Gehirnwäsche

Aus irgendeinem Grund hat sich mein Vater dafür entschieden, nur einen Kunden zu einer Zeit zu „bedienen“, im Sinne der Sprache seiner Berufskollegen an, wenn er bemüht ist, sein Metier zu erklären. „Vielleicht hängt es mit der Musik zusammen,“ erinnert er sich, „eines Tages hatte ich die herkömmliche Arbeit satt, machte eine lange Pause und schaute mir viele Friseurgeschäfte auf der ganzen Welt an. Am besten fand ich die Idee, ein Atelier zu haben. So wurde ich ein Haarkünstler, der Interesse nicht nur an den Haaren, sondern am ganzen Menschen hat. Schon wenn jemand das Atelier betritt, fühle ich sein Wesen, seine Schwingung, seine Aura. Damit dieser Mensch sich bei mir wohlfühlt, stelle ich ihm meine Musiksammlung zur Verfügung und er darf sich eine CD aussuchen. Weil das allen gefällt, nämlich dem Kunden und mir, kreieren wir eine gemeinsame Atmosphäre, die von alleine den Gang der Dinge bestimmt.“
Das Atelier wird von Licht durchflutet; es hat natürliches Oberlicht, das partiell abgedunkelt werden kann, und geführtes Seitenlicht. Die Wände sind alle getupft, die Grundfarbe ist gelb, eine kräftiges Sonnengelb, das an einigen Stellen in das Weiße übergeht, an anderen Stellen in das Orange. Der Friseursessel, mehr Sessel als Friseur, befindet sich genau im geometrischen Mittelpunkt, mein Vater dahinter, so dass er sich genau in der Schnittlinie des Soundsystems befindet, neben sich die Fernbedienung, eine Zimbel, ein Sortiment von Bachblüten und ein Kartenset indianischer Krafttiere. Der Sessel wird, ähnlich wie ein moderner Fernsehsessel, in die jeweilige richtige Position gebracht. Meistens behandelt Vater seine Kunden mit Kopfmassagen und Reiki. Gelegentlich schneidet er Haarspitzen, manchmal flechtet er die Haare, manchmal arbeitet er Perlen und Bänder in die Haarpracht.
Vor zwei Jahren, als sein Unternehmen in der Krise war, er sagt Unternehmen, obwohl er sich als Künstler fühlt, schloss er das Atelier für drei Monate. Anschließend stellte er Irischka ein, eine junge Frau, die er auf einem Besuch eines russischen Photographen kennengelernt hatte. „Ihre einzige Aufgabe ist es, präsent zu sein,“ so hatte er ihre Anwesenheit begründet, „Irischka ist so schön, ihr Gesicht ist schöner als der Mond,“ er nutzte die Sprache der Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht, um zu beschreiben, was sich nicht in sterbliche Worte fassen ließ. Sie hat lange wilde blonde Haare, ihr Gesicht strahlt die Jugend einer fünfzehnjährigen aus, obwohl sie neunzehn ist, ihre langen Beine sind wohlgeformt und ihre Brüste sind göttlich rund. Seitdem Irischka bei uns ist, hat Vater wieder gute Laune und die Krisenzeiten sind vorbei.
Die eigentliche Künstlerin in unsrem Haus ist Irischka. Ich weiß nicht, woher sie das Geld hat, aber ich glaube, dass sie jeden Tag etwas Neues anzieht, eine eigenwillige Kreation, die sehr dezent ist und sie wie eine Königin aussehen lässt. Sie schminkt sich nicht, trägt manchmal Ohrschmuck, doch sonst habe ich nicht einmal eine Kette an ihr wahrgenommen. Noch nie habe ich gesehen, dass Irischka eine Schere zum Haarschneiden in der Hand gehabt hat. Meistens steht sie an der Staffelei und portraitiert; sie braucht einen Menschen nur einmal anzusehen und schon ist sie in der Lage, sein Gesicht genau zu Papier zu bringen. Neulich war ich dabei, wie ein Kunde sie frug, wie teuer denn sein Bildnis sei.
„250 Euro,“ sagte Irischka so belanglos, als ob es üblich sei, diesen Preis zu verlangen.
„250 Euro, mein schönes Kind,“ sagte der dicke Bauunternehmer, „und was sind die Extras?“ Irischka würdigte ihn keinen Blickes.
„Darf ich denn handeln?“ Der Dicke war interessiert; woran, war offensichtlich.
„Du feilscht doch auch nicht, wenn du deinen dicken Mercedes kaufst,“ antwortete Irischka.
„Oh, doch, das tue ich wohl.“
„Na, dann strenge dich an das nächste Mal beim Feilschen, dass du dir das Geld für dein schönes Portrait verdienst.“
Der Kunde bezahlte die Rechnung meines Vaters, dann ging er zu Irischka, gab ihr das verlangte Geld und verabschiedete sich mit einem Augenblinzeln. Dass er keinen Erfolg mit seinen Ambitionen hatte, zeigte das Achselzucken, mit dem Irischka reagierte, woraufhin Vater flüchtig nickte.
Das war vor zwei Monaten. Heute, in der Mittagspause war mein Vater zu einer wichtigen Besprechung außerhalb, und ich beeilte mich, rechtzeitig im Atelier zu sein, um Zeit mit Irischka zu haben. Kaum war ich im Salon, da öffnete sich die Tür, Vater oder Irischka hatten vergessen, abzuschließen. Eine Frau in meinem Alter, ich hatte sie noch nie zuvor in unserem Dorf gesehen, trat ein. Unter ihrem weißem samtenen Mantel trug sie ein dunkelrotes Kleid, von einer besonderen Machart, auch mit vielen Spitzen und Rüschen versehen, ein Kleid, das mich an das Mittelalter denken ließ, obwohl ihre schwarzbraunen Nylonstrümpfe die heutige Zeit signalisierten. Ich überlegte, welchen Spruch ich nehmen sollte. „Darf ich Ihnen beim Ausziehen behilflich sein,“ das passte mehr in das Repertoire eines neunjährigen Jungen; „Wir haben Mittagspause,“ eher in das Weltbild eines Beamten. Am besten würde ich nach einer freundlichen Begrüßung abwarten, was passieren würde.
„Ich hätte gerne eine Gehirnwäsche,“ sagte das Wesen mit einer Selbstverständlichkeit, die mich sofort antworten ließ: „Mein Vater ist nicht da.“ „Eben,“ antwortete sie, „deswegen komme ich. Ich will von dir behandelt werden.“

Ein kleines Paradies

Sollte ich es so machen wie mein Vater, sollte ich mit diesem Wesen als Erstes eine Musik aus der großen Sammlung suchen? Meine Lieblingsmusik war oben in meinem Zimmer, also ging es nicht. Irischka konnte ich nicht um Hilfe bitten, sie war verschwunden, wahrscheinlich war sie in ihrem Zimmer.
„Ich heiße Inneke,“ sagte das Wesen, diesmal mit einer Stimme, die meinen Körper in Aufregung versetzte, „ich habe nichts dagegen, wenn wir du mir deine Musiksammlung zeigst.“ Sie konnte Gedanken lesen, und wenn ich ruhiger wäre, könnte ich auch ihre Gedanken lesen. „Hey,“ sagte ich, gab ihr meine Hand und bat sie, mir zu folgen.
„Warte mal,“ entgegnete sie und blickte mir in die Augen, „hast du Angst vor mir?“
Ich hatte keine Angst, ich war aufgeregt, sonst nichts. Eigentlich. Ich hatte nur Angst vor dem ersten Schritt, wenn ich eine Frau ansprach, um mit ihr anzubändeln, weil ich es nicht mochte, einen Korb zu bekommen. Darunter lag die Angst, sie könne schwanger werden, falls. Man weiß ja nie.
„Das hast du von mir,“ erzählte mir Vater in einer ruhigen Minute, „mein ganzes Leben war erfüllt von Angst.“ Er konnte nie orgiastisch werden, welch ein schönes Wort, das all meine Wünsche und Träume zusammenfasst, jedenfalls lange Zeit nicht, bis er Tantriker wurde.
„Du kannst es beschließen, keine Angst zu haben,“ empfahl er mir, „du kannst es drei Wochen ausprobieren, so zu tun, als ob du keine Angst hättest, dann machst du deine Erfahrung und wirst sehen, was passiert.“ Genau das tat ich, ich nahm mir vor, jetzt keine Angst zu haben, komme, was da kommen wolle.
Inneke fand die „Kelly-Family“, auch wenn meine CDs nicht nach Alphabet geordnet sind, und dann gingen wir ins Atelier zurück. Und dort sagte sie mir, wie sie sich die Gehirnwäsche vorstelle.
„Ich verzaubere dich, dass du mit Leichtigkeit in mich hineingelangen kannst. Du wirst noch kleiner sein als eine Fliege, dann fliegst du mit einem Staubwedel in mein linkes Ohr, machst dich an die Arbeit, und wenn du alles gereinigt hast, sagst du mir Bescheid und gelangst durch das rechte Ohr wieder in diese Welt.“
Als sie fertig war, schaute sie mich mit einem Lächeln an, als würden wir uns seit langer Zeit kennen, nur ich wusste nicht, woher. Déjà vu? Wer weiß. Für die Ausführung ihrer Idee brauchte ich nicht nur Mut, sondern Vertrauen. Ich liebte Jules Verne, und eine Reise zum Mittelpunkt der Erde wünschte ich mir schon immer. So sagte ich Ja, ohne groß nachzudenken. „First jump, than think.“ Mein Lieblingsgedanke, der immer kommt, wenn mich etwas reizt und ich die Folgen nicht abschätzen kann. Erst springen, dann denken.
Inneke schaute auf die Uhr, ging zur Eingangstür, schloss sie ab und bat mich, die andere Tür zu verriegeln und das Telefon und alle Handys lahmzulegen. Wir tanzten zwanzig Minuten wie verrückt, ich weiß auch nicht, warum ich mitspielte, aber es sollte so sein und dann, als ich verzaubert war, flog ich in ihr linkes Ohr hinein. Ich setzte mich auf den Amboss, hielt vorsichtig den Staubwedel in der Hand und gewöhnte mich an die Dunkelheit. Die Zeit hier drinnen würde anders verlaufen als in der äußeren Welt, hatte Inneke mir verraten, langsamer, weil ich kleiner geworden bin, noch kleiner als ein Kind, und Kinder würden sich für alles Zeit nehmen, was wichtig für sie ist. Die meisten Erwachsenen verstehen nicht, dass Kinder „innocent“ sind, „unschuldig in ihrem Wesen“ ist ein zu schwacher Ausdruck, auch kommt Schuld darin vor, das englische Wort drückt besser aus, was ich meine. Ich fühlte mich „innocent“, als ich Innekes Räume betrat, hielt vorsichtig den Staubwedel an mich, um sie in den engen Gängen nicht zu verletzen. Inneke hatte mir eine „Laterna Mystika“, ein rot scheinendes Licht mit auf den Weg gegeben, so dass ich mit Leichtigkeit in die linke Hirnsphäre gelangte.
Ich wusste nicht, ob mir dieser Ort gefiel, meine Gefühle erschienen mir widersprüchlich. Es war eine Städtelandschaft, mit riesigen Wolkenkratzern, rechtwinkligen Straßen und einer künstlichen Beleuchtung, mal in reinem gelben Licht, mal im Spektrum des Regenbogens. Dann veränderten sich Bereiche, die mich mehr an elektronische Schaltkreise erinnerten. Überall lag feiner Staub zwischen den Relais, und ich brauchte zwei gefühlte Arbeitstage, um meine Arbeit zu tun. Am dritten Tag überquerte ich die Brücke, die die beiden Gehirnsphären miteinander verband. Hier sollte ich mir besonders viel Mühe geben, hatte Inneke verlangt, und das tat ich auch, obwohl kein Staub oder Verunreinigungen zu erkennen waren.
Schließlich gelangte ich in die Zauberwelt der rechten Gehirnhälfte. Zunächst begrüßte mich ein Rosengarten, dann erfrischte mich eine Quelle und ich gelangte bald in eine verzauberte Höhle, fand einen magischen Wald, entdeckte auf einem türkisen See ein kleines Boot, setzte mich hinein und ruderte zu einer kleinen Insel. Ich war überrascht, als ich Inneke dort antraf. „Na, wie findest du es hier?“
„Himmlisch, göttlich. Ein kleines Paradies.“ Das „S“ zog ich in die Länge, warum, weiß ich nicht, aber ich pustete es vorsichtig in ihr linkes Ohr.
Inneke lud mich zu einem Picknick ein, und dann trennten wir uns wieder, weil die Zeit knapp wurde. In der rechten Seite gab es kaum Arbeit für mich, die Natur reinigte sich von alleine, es gab einen angenehm frischen Wind, manchmal gab es einen warmen Regen und es schien mir so, als ob eine Sonne aufgegangen wäre. Ich stand auf einem Berg, als ein Adler vom Himmel herab stieß und mich ergriff. Jetzt hatte ich Angst, aber ich sagte zu mir, dass ich sie ignorieren würde, auch wenn ich bibberte. Wir flogen nach draußen, der Adler flog sanft über Innekes Nase und setzte mich am Rand ihrer Oberlippe ab.
Meine Zauberin hatte einen ausgesprochen guten Tastsinn; sie wusste, dass ich angekommen war. Vorsichtig schob sie ihre Unterlippe vor, hauchte mich noch liebevoller an, nahm mich auf ihre Fingerkuppe, küsste mich und ich fühlte, dass ich wuchs. Sie küsste mich noch einmal, dann hatte ich meine richtige Größe erreicht.
„Du darfst mich nicht noch einmal küssen,“ sagte ich lachend, „sonst wachse ich über mich hinaus.“ Auch Inneke lachte und gab mir einen Kuss auf den Hals.
„So eine Gehirnwäsche ist etwas Feines,“ sagte sie, „das sollte man jeden Tag machen.“ Seit dem üben wir beide zusammen. Nicht jeden Tag, aber sieben Nächte im Monat. „Das reicht, damit die Birne ordentlich durchgepustet wird,“ findet Inneke. Das finde ich auch, obwohl es besser ist, täglich Staub zu wedeln.

4 Kommentare:

  1. Gehirnwasch-Zaubereien müssen eigentlich immer geschrieben und erzählt und gemalt werden - so sind die Tiefen des Lebens am schärfsten zu erfassen und begreifen. Das kommt näher ans Reale heran als Journalistisches oder Wissenschaftliches es bieten könnten. Seht mal hierhin: http://plankton-aquarelle.blogspot.com/ - rät euch Aryaman. Das kommt auch ans Reale des Beobachters heran. Selbsterkenntnis!

    ... fand Aryaman aus Wismar

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  2. ... und Irischka war weg - hast Du sie verloren? Ich habe sie gesucht und hier gefunden: http://www.myvideo.de/watch/2796954/Ktosexy_irischka . Grüße an Irischka, wenn sie wieder zu Dir kommt.

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  3. Danke, lieber Aryaman, für all deine Bilder, für deine Gedanken und deinen Hinweis. Jedes Bild hat seine Schönheit, die sich beim schnellen Scrollen nicht entdecken lässt. Es gibt bei Wordpress.com und bei JIMDO.COM Layouts, die Galerien sind, sie erleichtern es dem Betrachter, deine Bilder in Würde anzuschauen.

    Heute ist ein ganz besonderer Tag in meinem Leben, du kannst es auf satjam.wordpress.com lesen - und hören.

    Schön, dich zu sehen, schön, etwas von dir zu lesen, schön, deine Bilder anschauen zu dürfen.

    Love
    Burcado

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  4. Irischka, ja, wer ist Irischka? Zunächst dachte ich, dein Video würde die Irischka aus der Geschichte sein, aber sie ist es nicht. Da Bildzitate immer etwas mit Copyright zu tun haben, und weil suchen so viel Spaß macht, sei an dieser Stelle nur soviel verraten, der Name des Photographen fängt mit G an. Ohne Punkt. Danach ein O, dann ein N, dann ein CH, A, R, O, V und sein Vorname ist Sergey.

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