Mittwoch, 16. Februar 2011

Geschichten aus der Hölle .......................................................................2

Abschied vom Himmelreich



1968
Friesland
Das lang ersehnte Paket war endlich gekommen. Andreas ließ das Mittagessen warten, nahm ein Messer, schlitzte die Klebestreifen durch und öffnete vorsichtig die Paketwangen. Sein erster Diaprojektor, ein Braun Paximat 1600, war offensichtlich gut verpackt. Nach fünf Minuten konnte er das Gerät anschließen, suchte die jüngsten Bilder von Inneke heraus, steckte sie um 180 Grad verdreht ins Magazin und verdunkelte sein Zimmer.
Die weiße Rauhfasertapete war nicht für eine Vorführung gedacht, doch es störte ihn nicht. Andreas fädelte ein Band von den Beatles auf seinem Grundig TK 140 ein, wählte Hey Jude als Hintergrundmusik und drehte den Rundknopf auf Start. Zunächst Regenbilder – absichtliche Unschärfe, nur Regentropfen an Fensterscheiben zeigten klare Konturen. Dann die Bilder seiner Freundin. Inneke umarmte einen Baum; den Kopf tief im Nacken, ihre langen blonden Haare. Es war ein regnerischer Tag, doch Andreas liebte den Regen. An diesen Tagen waren die Hauttöne intensiver, alles war wie neugeboren.
Die nächste Sequenz. Mit einem Regenschirm hockte sie vor einem See und beobachte, wie die Blätter im Herbstwind tanzten. Durch Zufall kam ein Blatt auf sie zu, der Wind wurde still, nur das Blatt schob Wellen vor sich her; Sternstunde der Fotografie. Andreas hatte vier Filme mitgenommen, um sich Innekes Gesicht zu widmen. Inneke liebte es, wenn er sie anschaute. „Wie mag er mich wohl sehen, worauf achtet er, warum gefalle ich ihm?“ Inneke hatte viele Fragen, doch sie schwieg, um den Fotografen bei seiner Arbeit nicht zu stören.
Am Ende des Songs machte Andreas eine Pause, wechselte zum nächsten Magazin, spulte zu All you need is love und sah, wie Inneke lächelte, den Kopf senkte, wieder hob und dann ihre Augen schloß. Ihre Lippen formten einen offenen Mund, sie legte den Zeigefinger an die Lippen und kokettierte mit ihm. Dann öffnete sie ihre Strickjacke, ließ sie zu Boden gleiten, öffnete die Bluse, dass ihre Schultern sichtbar wurden. Andreas mochte den Übergang von Schulter, Hals und Innekes lange Haare.
Als die Mutter ihn erneut aufforderte, sein Essen warm zu machen, ging er in die Küche. Linsensuppe mit Griessnockernl und Wiener Würstchen. Es war eines seiner Lieblingsessen, das er gerne mit ein paar Spritzern Maggi würzte. Nachdem er seine Schulaufgaben gemacht hatte, halbwegs, schnappte er sich seine Yashica-Electric und ging zu Inneke.
*****
Andreas wusste, dass Inneke alleine war. Langsam ging er zum Wald, wo sie wohnte; er ging lieber zu Fuß, auch wenn es regnete, weil es ihm so mehr Spass machte, seine Erregung beim Gehen zu spüren. Das, was er vor hatte, war nicht erlaubt. Doch sein Verlangen, Inneke nackt zu sehen, war so groß, dass er sich über Konsequenzen keine Gedanken machte.
Die beiden küssten sich lange, und Andreas zog Inneke vorsichtig auf ihr Bett. Das Küssen, so sagte sie ihm eines Tages, würde ihren ganzen Körper verzaubern und am liebsten würde sie mit ihm schlafen, doch das ginge nicht, weil sie mit dreizehn nicht Mutter werden wolle. Langsam schob Andreas seine linke Hand in Innekes Ausschnitt. Er tastete sich vorwärts und fragte sich, ob sie widersprechen würde. Doch Inneke genoss die Wärme und das Verlangen der Berührung.
Nach einer Weile stoppte sie seine Hand. „Weiter nicht,“ flüsterte sie, „ich verliere mich.“ Andreas war enttäuscht und wütend. Die Energie in ihm war so stark, dass er nur noch den Drang verspürte, in ihr zu sein. Oder dass sie ihn bis zum Orgasmus streicheln würde. „Ich möchte, dass wir in den Wald gehen,“ sagte Inneke, „du darfst mich da fotografieren.“
Die Aufnahmen im Wald verliefen ganz anders, als es sich Andreas vorgestellt hatte. Auf einmal war in ihm Stille eingekehrt, und er fühlte sich wohl, als Inneke posierte. „Ich bin glücklich,“  sagte er, „es ist so schön.“ Er wollte noch etwas sagen, aber er tat es nicht. Inneke hatte sich ausgezogen. Nicht auf einmal, sondern nach und nach. Doch ihr Kopftuch und ihre Bernsteinkette hatte sie anbehalten. Und ihre Jeans.
Als die Dämmerung nahte, trennte sich die beiden. Andreas machte die Diafilme fertig, brachte sie zur Post, erledigte die verhassten Hausaufgaben, legte ein Klavierkonzert auf und freute sich aufs Abendessen.
*****
Am Abend schaute er sich Dias von der Rhön mit dem neuen Projektor an. Den vergangenen Sommer hatte er auf einem CVJM Camp verbracht. Die Zeit war nicht gut für ihn gewesen, alles war reglementiert. Er hatte neue Freunde kennengelernt, doch es wurde zuviel gebetet. Auch wurde gemunkelt, dass man “Hängolin” ins Essen mache, um die jugendlichen Triebe zu dämpfen.
Immer wieder seilte er sich ab, um jenseits des Camps Fotos zu machen. Für ihn war die hügelige Landschaft Abwechslung und Herausforderung zugleich. Ihm gelang es, sich aus dem Lager zu schleichen, wenn alle noch schliefen, wenn es dämmerte, um die Besonderheiten des Lichts und der Landschaft einzufangen.
Mit gemischten Gefühlen betrachtete Andreas die Bilder aus dem Urlaub. Ihm fiel ein, dass er viel erlebt hatte. Gerade, als er bei den Bildern vom Trampen angelangt war – und das war nicht ungefährlich, weil der Wagen plötzlich vor einem Abgrund stand – hörte er eine Auseinandersetzung im Treppenhaus. Sein Vater und seine Schwester stritten sich; gewaltig.
Später wusste Andreas nicht genau, wie alles gekommen war. Seine Mutter und seine Schwester kamen in sein Zimmer, außer sich, unfähig etwas zu sagen. Im Flur schrie der Vater: „Ich bring euch alle um!“ Der Junge wurde zum Helden, sprang auf, verriegelte die Zimmertür, schob die Frauen ins nächste Zimmer, verriegelte die Verbindungstür. Der Vater hämmerte mit einem Gewehrkolben an die erste Tür.
Andreas öffnete ein Fenster und ordnete den Ausstieg an. Währenddessen brach der Vater die erste Tür auf, schnappte sich den Diaprojektor und zerschmetterte ihn an der Wand. Dem Jungen, der die Geräusche genau deutete, blieb keine Zeit zum Schmerz; Andreas sprang als Letzter aus dem Fenster und zog die Frauen mit sich in die Dunkelheit. Nach zehn Minuten waren sie gerettet. Die Eltern der Mutter gewährten ihnen Obdach.
Das war die erste Nacht in seinem Leben, als das Himmelreich zur Hölle wurde.

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