Montag, 31. Januar 2011

Danae, Miriam und Janto ...................................................................................2

Miriam will eine Geschichte hören



Ein Blick auf seine Armbanduhr, die er neben seine Jeans abgelegt hatte, verriet Janto, dass sein Zeitgefüge durcheinander gekommen war. Statt der gefühlten dreißig Minuten hatte er anderthalb Stunden benötigt, um zu meditieren und hinterher hatte er sich noch Karten gelegt und war dabei er wohl eingeschlafen. Diesmal lief er die Treppen schnell hinunter, doch er brauchte nicht lange, bis er sich vergewissert hatte, dass Miriam nicht mehr in seiner Wohnung war. Sie hatte alles mitgenommen, die CD-ROM, ihre Handtasche und ihre Ausstrahlung. Nur ihr lieblicher Duft, den er mochte, war ihm geblieben.
Kurz darauf signalisierte sein Sony Ericsson den Empfang einer neuen SMS. „Hallo Janto. Setz dich bitte an dein Notebook und schreibe mir eine Geschichte. Ich nenne dir in zeitlicher Abfolge Stichworte, die unbedingt vorkommen sollen. Als Erstes: Sich verlassen fühlen. Das nächste bekommst du irgendwann, wenn du mitten drin bist. Ab jetzt bin ICH deine Tochter und ich wünsche mir wie ein kleines Kind, dass du mir eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest, damit ich in deiner Nähe mit dem Gefühl, geliebt zu werden, ruhig und sicher einschlafen kann.“
***
Janto fluchte, weil Danae, seine neue Freundin, in einer halben Stunde kommen würde. Sie hatten sich zu einem lustvollen tantrischen Date verabredet. Er brauchte nur flüchtig dran zu denken, und sein Körper war elektrisiert. Danaes Stimme war so erotisch, dass er, nur wenn er an den Klang ihrer Stimme dachte, seine Lust kaum noch kontrollieren konnte. Das war ein Geschenk, wenn er erschöpft war, eine Qual, wenn er Leerlauf hatte und sie nicht in seiner Nähe war. Danae hatte immer Lust, morgens, mittags und abends. Danae hatte überall Lust, im Wagen, an der Tankstelle, im Wald und im Café. Noch nie hatte er eine Liaison mit einer Frau, die soviel Lust an der Lust hatte, die sich verkleidete, die Lust auf erotische Rollenspiele hatte, die mit ihm stundenlang tantrische Massagen übte, mit immer neuen Varianten, die mit ihm auf einem hohem Kamm der Lust ritt; eine junge Frau, die schon den Kobraatem mit all seinen Spielregeln kannte, um das Energielevel zu senken, um dann wieder von neuem in sexueller Lust zu schwimmen, um irgendwann morgens pünktlich zum Frühstück orgiastisch aufzuschreien. Wie sie es danach schaffte, ohne Schlaf zum Unterricht zu kommen, blieb ihm ein Rätsel. Als er neunzehn war, hätte er mindestens drei Stunden Schlaf benötigt und langes Duschen, um wieder wach zu werden.

Zwei Möglichkeiten fielen ihm ein. Am besten, er würde Miriam schreiben, dass es nicht ginge, weil er ein Date habe. Oder sollte er vielleicht lügen, dass sein Notebook nicht mehr funktioniert? Aber Lügen ist keine Lösung, dachte er, Lügen macht alles kompliziert und verhindert Entwicklung. Meine und auch die von Miriam. Obwohl ich sie nicht kenne. Vielleicht sollte ich mich entscheiden, dass es nur ein Fake ist.

Janto schüttelte seinen Kopf. Dann lieber die zweite Variante. Danae macht das Abendessen, während ich schreibe. Ich erkläre ihr alles, schreibe in Ruhe, ohne zu wissen, ob ich ruhig sein kann, mit Danaes Händen, die von meinen Knie die Oberschenkel hochwandern, oder die sich über mich beugt, meinen Hinterkopf mit ihren Brüsten berührt, an meinen Ohren knabbert und mit ihren Fingern sanft meine Lippen verführt. So oft kann ich gar nicht tief durchatmen, um zur Besinnung zu kommen, weil sie dann geküsst werden will und ich Ja sage, weil ich es liebe, ihre Lippen mit meinen Lippen zu berühren, weil ich das Spiel der Verführung liebe, das jedes Mal aufs Neue stattfindet und zu dem ich noch niemals Nein sagen konnte.

Das Xperia summte. Ausrechnet Enigmas Principles Of Lust war sein Klingelton, der ihn auf jede Nachricht positiv reagieren ließ. Fluchen half nicht. Ein Blick verriet ihm, dass das Spiel begonnen hatte. „Papa,“ schrieb Miriam, „Papa, wie weit bist du? Es ist so langweilig ohne dich. Fängst du jetzt bitte an? Immer hattest du etwas anderes zu tun, niemals hast du an mich gedacht. Jetzt bin ICH an der Reihe.“

In zwanzig Minuten würde Danae an der Tür stehen. Er könnte sie versetzen, aber mit wem würde sie dann ihre Triebe ausleben? Nicht auszudenken. Als doch die Henry-Miller-Variante; ich schreibe und sie zieht sich schon mal aus. Am besten drehe ich die Heizung auf, bevor es ihr zu kalt wird. Aber wie sollte er eine Geschichte erzählen, wenn er nicht bei der Sache war? Er war ein Geschichtenerzähler, der gut erzählte, weil er sich in die Gefühle anderer hineinversetzen konnte und weil er ganz bei der Sache war. Janto hatte sich noch nie bei Gute-Nacht-Geschichten ablenken lassen, wenn seine Kinder bei ihm waren.

Plötzlich fiel ihm die Affengeschichte ein. Ein Äffchen kann man mithilfe eines Glases fangen, drinnen ist eine dicke Nuss, die der Affe haben will. Weil er so dumm ist, nicht loszulassen, bekommt er sein Händchen nicht mehr aus dem Glas und wird so gefangen. „Ich sollte Danae loslassen,“ dachte sich Janto, „aber heute Nacht ist meine Nacht. Sieben tantrische Nächte sollen es sein, und heute Nacht wird die fünfte Nacht, und dabei bleibt es.“

So schickte er Miriam eine SMS. „Es geht nicht. In einer Viertelstunde bekomme ich Besuch. Kinder müssen auch mal warten können. Bis später. Janto.“

Drei Minuten später wurde Janto durch die Principles erinnert, dass er eine Tochter hatte. „Ich will die Geschichte jetzt! Ich bin DEINE Tochter, und ich habe etwas gut bei dir. Und das ganz oft! Miriam.“

Also setzte er sich in den Schneidersitz, um sieben Mal tief durchzuatmen. Nachdem dritten Atemzug hörte er den Schlüssel in der Wohnungstür. Danae, dachte er. Und er atmete weiter, während seine Augen geschlossen waren. Beim sechsten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Danaes Parfum war es auch nicht. Doch er hielt die Augen verschlossen, um ein siebtes Mal zu atmen. Er hätte wohl noch dreißig Mal mehr atmen müssen, um zu einer Lösung zu kommen, aber dafür reichte die Zeit nicht. Janto öffnete die Augen.
„Hallo Papa,“ sagte Miriam, „wenn du nicht schreiben kannst, so solltest du mir die Geschichte erzählen.“ Dann legte sie sich auf die Couch, und zwar so, dass ihr Kopf auf seinen Oberschenkeln lag, während ihr dunkelbraunes gewelltes Haar den Boden berührte. „Du kannst jetzt anfangen, ich höre dir gerne zu.“ Miriam schloss die Augen, als Janto begann.
 ***
„Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da saß ein Märchenerzähler in Norwegen mit seiner Familie am Lagerfeuer. Es war eine kalte Oktobernacht, alle saßen eng beieinander, ganz ohne Musik, weil es viel angenehmer war, die Hände in den Taschen zu behalten, als Flöte zu spielen. Der Mann erzählte ein traurige Fabel, weil ein Elchbaby seine Eltern verloren hatte. Es irrte lange in einer dunklen Nacht umher, bis es zu müde war, um noch einen Schritt weiterzugehen. Am Rande eines großen Fjords ließ sich das Elchkind nieder, ohne zu wissen, wie nahe es sich an der Gefahr befand.“

In diesem Moment hörte Janto, wie sich ein weiterer Schlüssel im Schloss bewegte. Die Tür öffnete sich, Danae sagte: „Hallo, mein Schatz“ und wollte noch etwas hinzufügen, als sie Janto und Miriam sah. „Scheiße,“ rief sie aus, und unerwartet fügte sie hinzu: „Sorry.“ Danae warf den Schlüssel in Richtung Janto, verfehlte ihn, drehte sich um und knallte die Tür zu.

„Du kannst jetzt weiter erzählen,“ sagte Miriam. Nur setzte sie sich jetzt anders hin, weil sie Janto nicht all zu sehr kompromittieren wollte. Seine sexuelle Regung, als Danae im Raum stand, bevor sie sich verabschiedete, hatte sie genau wahrgenommen. „Tut mir Leid, dass deine Verabredung keine Manieren hat und so ungeduldig ist, Janto, aber findest du nicht auch, dass ein kleines Mädchen wissen möchte, wie es mit dem Elchbaby weiter geht?“

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